Samstag, 24. Mai 2008

Beginn einer lebenslangen Suche

Wir waren sechzehn und wir waren zu fünft. Wir hatten zwei Wochen in Pescara bei Freunden am Meer verbracht. Es war stets klar, wann wir zurück nach Wien reisen würden: am 2. August 1980. Warum wir 24 Stunden früher heimfuhren, weiß keiner von uns. Es hatte keinen Streit gegeben, eher das Gegenteil - es war schön gewesen.

Um den Zug nach Wien zu nehmen, mussten wir vormittags in Bologna umsteigen. Die Wartezeit vertrieben wir uns im Bahnhofscafé und im Wartesaal zweiter Klasse. Im Café ärgerten wir uns über einen ungewohnt unfreundlichen Kellner. Wir waren sehr in Italien verliebt, in alle Italiener und Italienerinnen, das Leben war schön. Ein mürrischer Kellner passte nicht ins Bild.
Falls er am nächsten Tag zur selben Zeit Dienst gehabt hatte, ist er wohl an jenem Tag gestorben. Im Wartesaal und im Café überlebte niemand. 85 Menschen wurden von einer Bombe, die in einem Koffer in der sala di attesa deponiert war, zerrissen, 200 weitere großteils schwer verletzt.

Wir selbst waren anfangs nur unendlich schockiert und teilten das Staunen über ein Wunder. Erst später begann ich, mich dafür zu interessieren, wer so viele - und auch mich - umzubringen geplant hatte. Seit einem Vierteljahrhundert habe ich fast alles gelesen, was auf Deutsch und Englisch über den Anschlag veröffentlicht wurde, auch vieles auf Italienisch.

Unglaubliche Wahrheit

Medien und die tonangebende Politik hatten anfangs die Roten Brigaden, eine linksextremistische Terrorgruppe, verantwortlich gemacht. Es dauerte lange, bis klar wurde, wer hinter "La Strage di Bologna" steckte. Es gibt zwei Verurteilte (die mittlerweile wieder in Freiheit sind), aber die Hintermänner wurden nie schuldig gesprochen. Jeder weiß, um wen es sich handelt, und man kann nur verstehen, dass dieser Anschlag ungesühnt bleibt, wenn man Italien sehr nahe gekommen ist. Wenn man die Geschichte des Anarchismus und des Terrorismus kennt. Wenn man das abgrundtiefe Prinzip der Lüge und des Zynismus, die die italienische Innenpolitik mehr geprägt haben, als die jedes anderen demokratischen Landes, zur Kenntnis genommen hat. Wenn man eingesehen hat, dass das Unglaubliche wahr ist, und umso wahrer, je unglaublicher es scheint.

Der damals ermittelnde Staatsanwalt Libero Mancuso schreibt verbittert:
"Vielleicht ist Italien deshalb nicht mehr in Gefahr, weil bereits alles so gekommen ist, wie bestimmte Kreise es gewollt haben. Wir leben etwa nach Gesetzen, die für ein zivilisiertes Land entwürdigend sind. Mit Reformen, die uns weit zurückwerfen. Wir erleben eine Schwächung all jener Institutionen, die über die Verfassung wachen müssen. Das ist gefährlich für das demokratische Gleichgewicht. Überflüssig zu fragen, ob heute noch Terrorgefahr besteht. Die Dinge haben sich vollzogen, das Desaster ist bereits geschehen. Das Problem ist, wie man da wieder herauskommt."

"Man muss alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist." Das berühmte Zitat aus Lampedusas "Der Leopard" ist ein schrecklicher Satz. Die höchsten Repräsentanten zahlreicher Regierungen (nicht nur) des italienischen Staates haben ihm eine grausame Bedeutung verliehen.

Ich habe Italien zu verstehen gelernt - auch aufgrund des unglaublichen Zufalls, damals davongekommen zu sein. Mein heutiges Italien hat nicht mehr viel zu tun mit dem von 1980. Nicht, weil Italien sich so verändert hätte, sondern weil ich es nun besser kenne. Es ist noch immer das Land meiner Träume und meiner Sehnsucht. Vielleicht war ich in keinem anderen Land so oft glücklich, und vielleicht lebt man nirgends näher am Schönen als dort. Aber es ist auch ein Land, in dem die Schlächter ungestraft bleiben.

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Samstag, 22. September 2007

Venice for Pleasure

ist gleich der Titel nicht nur des besten Führers für Venedig, sondern des besten je geschriebenen irgendeiner Stadt. Aber der Reihe nach:

Bestes Hinkommen:
Per Zug - entspannt in der Früh aufwachen mitten in der Stadt. Fliegen kostet viel Zeit vom An- bzw. Abreisetag. Und eine halbe Tonne CO2 pro Person fällt bei diesem Flug auch an... - muss ja nicht sein.
Per Auto ist sowas wie ein nicht bestandener Intelligenztest. Man kann in Punta Sabbioni oder am Piazzale Roma parken (zum Preis eines Hotelbetts pro Nacht). Aber eigentlich kommen wir nach Venedig auch wegen der Autos. Um keine mehr zu sehen, zu hören, zu riechen.

Bestes Wohnen:
Es gibt gute und günstige Quartiere - die besten werde ich hier nicht verraten. Nur soviel: Das Collegium der armenische Mönche im Palazzo Zenobio liegt gut (ums Eck vom Campo S. Margherita!), hat einen Ballsaal und einen Garten. Die Zimmer sind mönchisch, aber sauber, ruhig und billig. EZ/DZ ab € 25,-/50,-, mit Bad/WC das Doppelte. In der Nähe des Bahnhofs kann man sehr billig wohnen und dabei Vietnamesich oder Suaheli lernen (dort wohnen teils die Hotelsklaven und Straßenhändler zu zehnt auf fünf Quadratmetern), ausgeraubt werden oder englischen Hooligans ausgesetzt sein, die das Stadion suchen, weil es ja irgendwo ein Spiel geben muss, oder? Das Rio hinter San Marco ist eine gute bescheidene Lösung. Gute Mittelklasse ist das Kette bei La Fenice, Spaß macht es schon im Gritti, Danieli (nur im alten Teil mit Blick auf die Lagune!) und vor allem im Cipriani (ab ca. 500,-/Nacht). Faustregel: Karneval und Biennale sind - auch preislich - indiskutabel. Kanalblick heißt romantisch aber oft laut (O sole mio schmetternde Gondolieri und mit etwas Pech noch mitgrölende Kegelclubs aus Wanne Eickel, ratternde Müllabfuhrboote, etc.). Sommer geht eh nicht, weil überlaufen. Deshalb:

Beste Zeit:
Oktober nach der Biennale bis 14 Tage vor Faschingsdienstag, nach dem Karneval bis 10 Tage vor Ostern. Alles andere ist tabu, sauteuer und komplett touriverseucht.

Bestes Essen:
La Colomba, das Graspo de Uà, die Locanda Cipriani auf Torcello sind gut. In ein paar der großen Hotels, vorzugsweise mit Blick auf den Canal Grande, sowie in Harry’s Bar kann man vorzüglich essen - zu wirklich unverschämten Preisen. Sonst gilt: die Panini und Variationen an Sandwiches sind oft ausgezeichnet, seit kurzem gibt es - gute - Kebabs, Pizza über die Gasse ist oft fein, aber alles zwischen Luxus und frugal ist heikel: nie essen, wo Gruppen essen, nie, wo es Fotos der Speisen gibt, nie an den Durchzugsstraßen, nie, wo man reingekeilt wird, nie, wo man Touristenfamilien mit Kindern sieht. Es gibt den Restaurantführer Osterie d’Italia der Slow-Food-Bewegung – die haben immerhin drei Dutzend Lokale in Venedig aufgenommen.

Bestes Trinken:
Caffè immer und überall, Wein im Glas fast ebenso, aber vor allem do as the venetians do: Spritz (Aperol oder Campari, dazu Weißwein mit Selterswasser oder Prosecco). In gewissen Gegenden färbt sich die ganze Stadt ab gegen Abend rötlich und orange. Und damit kann man sich einen umhängen ohne die Kreditkarte zum Glühen zu bringen (€ 1,50,-/Glas, gut eingeschenkt). Harry’s etc.: einmal, um zu wissen, dass man nichts versäumt, wenn man nicht mehr hingeht.

Coolster Bürgermeister:
Massimo Cacciari, hatte eine Affäre mit Silvio Berlusconis Frau (Professor für Ästhetik am Institut für Architektur der Universität Venedig - er, nicht sie...), als der schon MP war.

Bestes Sightseeing:

Regel eins: bei den ersten fünf bis zehn Besuchen: keine Kirchen, auch nicht San Marco. Das ist so wie in Rom: die meisten kommen eh nur einmal und sehen sich etwas unterm Mikroskop an, von dem sie nie ein Gesamtbild erkennen (und was ihnen auch im Détail unverständlich bleibt).

Regel zwei: spazieren, spazieren, spazieren.

Regel drei: keine der Straßen mehr als einmal nehmen, die den Bahnhof mit der Rialtobrücke und diese mit San Marco verbinden.

Regel vier: San Marco (Piazza und Bezirk) überhaupt auslassen.

Regel fünf: OK, San Marco muss einmal sein (ich hab’ dort insgesamt - allerdings bei 68 Aufenthalten - sicher eine Woche verbracht, it pays): die Basilika deutlich vor neun Uhr morgens, nördlicher Seiteneingang – Sie wollen schließlich nur bei der byzantinischen Maria Nicopeia beten… ;-)
Dogenpalast: sehr früh oder sehr spät, Tickets am Vortag besorgen, und dann die inkludierten Sachen nicht vergessen: Museo Correr (wunderbar, Stadtgeschichte), „Geheime Gänge“ (Aufpreis, lohnend, wenn möglich nicht die deutsche Führung mitmachen, auf ital., engl., franz. sind die Führungen besser und das Publikum fröhlicher…), Museo del Risorgimento.
Campanile der Markuskirche: bei Schönwetter unbedingt und bei Sonnenuntergang: von dort sah Goethe erstmals das Meer und so mancher den Himmel, so schön ist der Blick über die Serenissima. Der Blick von S. Giorgio Maggiore vis-à-vis ist übrigens noch besser...
Ein Drink im Quadri oder Florian abends bei Musik: ja, aber nicht über den Rechnungsbetrag nachdenken. Und nicht über alle an den Nachbartischen, die ausschließlich das tun.

Regel sechs: Sobald man reif ist für die Kirchen nimmt man ein Sammelticket für die wichtigsten, ist ein Jahr lang gültig. Für San Zanipólo zahlt man extra, aber das ist es wert.

Regel sieben: Accademia mit Vergnügen besuchen, eine der besten Gemäldegalerien der Welt, klein, überschaubar, allein wegen Giorgione und Carpaccio die Reise wert, öffnet 08.15!

Regel acht: Nicht alle Bilder in den Museen und (107!) Kirchen sind erstrangig. Es macht viel Spaß, sich über die vielen schlechten Palma Giovane lustig zu machen oder über Tintoretto, der den Lichtschalter nie gefunden hat. Oder Pferde in Kirchen zu zählen oder Löwen überall. Tauben am Markusplatz gibt es übrigens 2.534, in Venedig ständig über 100.000. Nicht füttern!!!

Regel neun: es gibt viel und gute Moderne, nicht nur im Guggenheim.

Regel zehn: hin und wieder innehalten, niederknien (zumindest im Geiste) und sehr, sehr glücklich sein. Darüber, dass es Venedig gibt, darüber, dass es so nah ist, und vor allem darüber, dass Du gerade dort sein darfst.

Bestes Fortbewegen:
Zu Fuß, man geht rechts. Nicht nebeneinander in schmalen Gassen, nicht Stehenbleiben auf Brücken oder an engen Stellen.
Vaporetto: Mehrtageskarten sind ok, aber wozu überhaupt?
Gondel: zum Überqueren des Canal Grande um € 0,50 an mehreren Stellen ja, sonst: NO!
Taxi: machen Sie gern bei Kettenspielen mit? Setzen Sie gern auf österreichische Fußballclubs in internationalen Bewerben? Es gibt so viele sinnlose Arten, ein Vermögen zu verbrennen…
Schwimmen: verboten, plus man riecht nachher nicht so gut, wie ich ´mal am eigenen Leib erfahren musste.

Schlechtestes Spielcasino: Palazzo Vendramin, heute das einzige (als Napoleon kam, gab es immerhin noch 137). Dort starb Richard Wagner, und das würde er mit Vergnügen wieder tun, wenn er das Publikum sähe. Die Befreiung des Balkans ist großartig, und das Selbstbewusstsein gewisser ländlicher Schichten aus der Basilikata oder der Lombardei ist es auch, aber jemand sollte denen sagen, was kleidungsmäßig alles nicht wirklich geht. Venezianer und Pleasure-Seeker gehen seit 1870 nicht mehr hin.

Schlechteste Jahreszeit: „Karneval“. Als Rokoko-Venezianer verkleidete albanische Lohnsklaven der Tourismusindustrie und ebenso kostümierte freiwillig mitmachende Besucher aus Ohio, Seoul oder Tribuswinkel auf der Suche nach der unwiederbringlich verlorenen Würde, die sich zum Affen machen und dabei gegenseitig fotografieren.

Schlechtester Vorsatz: hinziehen. Unleistbare Mieten in Verbindung mit der schönsten Stadt der Erde vermixt mit Horden kurzbehoster Tagesbesucher der ultimativ unakzeptabelsten Art, Stadtpläne und verzweifelte Runden drehend, unfassbaren Kitsch kaufend und Karikaturen sowie Alpträume darstellend – wer noch dort wohnt, muss das. Oder kann es sich leisten, nur in den o.a. Perioden dazusein.

Schlechteste Idee: Hinfahren zum Italienischlernen. Man spricht Venezianisch, was wie Italienisch gesprochen von einem zuzelnden Karel Gott klingt.
Beste Gegenden: Dorsoduro (Campo S. Margherita, abends, nachts), Cannaregio (nördlich vom Ghetto, tags)

Beste Führer: J.J. Links, Venice for Pleasure, es gibt nichts Vergleichbares. Dankesbezeugungen werden als Kommentare akzeptiert.
Jan Morris, Venice
Die Guidebooks von Michelin (auch dt.) und Lonely Planet (engl., ital.) sind zuverlässig und empfehlenswert, sonst gilt die Faustregel: ab € 20,- sind die meisten seriös, fast alle anderen eine Zumutung.
Alexander Kriegelstein: nur mehr for pleasure

Beste Filme:
Der Tod in Vendig
Wenn die Gondeln Trauer tragen
Begegnung in Venedig (Lelouch, HASARDS OU COINCIDENCES)

Beste Literatur:
Hemingway, Across the River and Into the Trees
Ein Soldat aus dem Großen Krieg, Mark Helprin
Ein Liebhaber ohne festen Wohnsitz, Fruttero & Lucentini
Und so viel mehr, zu viel allerdings, z.B.: Donna Leon! Sie lässt ihre Sachen nicht ins Italienische übersetzen, und sie weiß warum. Essen Sie gerne Topfenstrudel beim Chinesen?

Bestes Gedicht:

Venedig

An der Brücke stand jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang: goldener Tropfen quoll’s über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik - trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus ...
Meine Seele, ein Saitenspiel, sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu, zitternd vor bunter Seligkeit.
- Hörte jemand ihr zu? ...

Friedrich Nietzsche

Anmerkungen zu Giotto

You raise up your head And you ask, "Is this where it is?"
And somebody points to you and says "It’s his"
And you say, "What’s mine?"
And somebody else says, "Where what is?"
And you say, "Oh my God Am I here all alone?"
Bob Dylan, Ballad of a Thin Man

Es gibt in Italien diesen Witz, in dem ein Carabiniere, Angehöriger eines Berufsstandes, dem in Italien enzyklopädisches Wissen selten unterstellt wird, in einem Laden Poster für die Kaserne erfragt. Auf die Frage des Verkäufers: „Di Giotto?“, was im Italienischen auch wie „Diciotto (18)?“ klingt, erwidert er, es könnten auch neunzehn oder zwanzig sein. So weit muss man kommen, nach siebenhundert Jahren noch für solche Scherze herhalten zu können. Er ist auch in einer Redewendung präsent, „rund wie das O von Giotto“, weil er, wie das unersetzliche Klatschmaul Vasari berichtet, dem Papst aufgeforderter weise kein Bild als Zeichen seiner Kunstfertigkeit übersendet, sondern einen freihändig gezeichneten Kreis.

Als 1998 das Dach der Oberkirche von Assisi einstürzte, fiel auf, dass in italienischen Medien von Giotto so wenig die Rede war; die Journalisten hatten gut recherchiert: dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion entsprechend muss man sehr vorsichtig sein: es ist sicher, dass Giotto an den Fresken der Oberkirche von S. Francesco mitgearbeitet hat, aber es wird seit mehr als einem Jahrhundert intensiv daran gearbeitet zu eruieren, wie viel und was genau er beitrug. Sicher ist, dass er dort in seinen jungen Jahren gearbeitet hat, und sicher ist, dass vieles von ihm sein könnte, einiges ihm zugeschrieben werden kann. In seinen späten Jahren hat er zweifelsfrei in der Unterkirche in Assisi gearbeitet, und Giotto ist zumindest der erste Künstler, bei dem das Frühwerk von seinen Alterswerken unterscheidbar ist.

Vieles von ihm ist verloren, unter anderem alles, was er in Neapel und Mailand hinterlassen hatte. In Rom sehen die Besucher der Lateranbasilika das blasse Fragment eines Freskos, das Bonifaz VIII. 1300 bei der Ausrufung des ersten Heiligen Jahres darstellt, sein Werk in der Pinakothek des Vatikans ist schon weniger bekannt. Als seine reifsten Arbeiten werden die Bardi- und Peruzzi-Kapelle in S. Croce zu Florenz angesehen, zu seinen Hauptwerken zählt die Ognissanti-Madonna in den Uffizien und mit zum Berühmtesten gehört der Campanile des Doms von Florenz, der allerdings nur sehr teilweise auf seinen Entwurf zurückgeht. Als besterhaltenes Gesamtwerk Giottos darf man die Arena-Kapelle zu Padua betrachten, die er noch in der ersten Hälfte seiner Schaffensperiode ausgemalt hat und deren Restaurierung nun als abgeschlossen gelten darf, was sein Werk betrifft. Sie ist der Höhepunkt der Großausstellung „Giotto und seine Zeit“ in Padua, die neben Giotto auf eine Stadt aufmerksam macht, die mehr Malerei des vierzehnten Jahrhunderts, des Trecento, aufweist als selbst Florenz.

Wer sich in Giotto vertieft, glaubt bald, seine Handschrift erkennen zu können. Das ist nicht selten ein Irrtum, denn er steht nicht ganz so singulär da, wie ihn vor allem das vorvergangene Jahrhundert erlebt hat. Es gilt heute als erwiesen, dass seine Figurensprache nicht unerheblich von der Dombauschule von Reims, dem dortigen Skulpturenschmuck, beeinflusst war. Er hat nicht die Perspektive neu erfunden, die die Antike schon gekannt hatte und die auch ihm noch nicht wirklich zugänglich war, um die sich aber vor und neben ihm schon andere bemühten. Neben Cimabue hat er wohl auch viel von Cavallini in Rom empfangen. Er gehörte großenteils noch der Gotik an, ganz dem Mittelalter und hat nicht die Renaissance anklingen lassen, auch nicht allein die Malkunst der Neuzeit eingeläutet. Der Geniekult insbesondere des 19. Jahrhunderts hat vieles undeutlich gemacht, vereinfacht und überlagert. Über ihn zu schreiben muss damals allerdings einfacher gewesen sein. Dieses In-die-Knie-Gehen romantisierender Epochen und Schulen beeinflusst jedoch auch den zeitgenössischen Betrachter, aber es ist ohnehin fraglich, wie wertvoll der wissenschaftliche Skeptizismus abseits der fachlichen Debatte ist, der nur das Beweisbare gelten lässt und damit dem Materialismus in seiner Schwäche ähnelt.

Ehrfurcht vor Giotto ist allemal angebracht. Und wenn man heute Padua besucht, wird neben seinem frisch restaurierten vollständigsten Hauptwerk vor Augen geführt, wie wenig selbstverständlich es ist, so viel von ihm noch sehen zu können: die Fresken des jungen Mantegna in der Eremitanikirche, hundert Meter neben der Arena, sind einem Bombardement 1944 zum Opfer gefallen und gehören zu den schwersten kunsthistorischen Verlusten des letzten großen Krieges in Europa, sind uns nur noch in alten Fotografien zugänglich. Sie haben Goethe erstaunt, der Giotto noch zu den Barbaren zählte. Auch die Katastrophe von Assisi macht deutlich, wie wenig vom Reichtum der Welt von vor siebenhundert Jahren noch sichtbar ist, und wie wenig selbstverständlich seine Existenz ist.
Dass die Scrovegni-Kapelle zu Padua noch dazu ein unumstrittenes, gänzlich und hervorragend erhaltenes Oeuvre ist, erhöht ihren Wert. Zu Recht wurde von der Magna Charta des Mittelalters gesprochen.

Zu wenig eingegangen wird meist auf die Umstände, unter denen Giotto zwischen 1303/1305 etwa 600 Tage lang in Padua gearbeitet hat:

Was wir heute Italien nennen, war damals, wie man so sagt, Spielball der großen Mächte, wie noch über ein halbes Jahrtausend danach: eine Generation, damals muss man sagen: ein Lebensalter vor der Arbeit in der Arenakapelle war mit Konradin der letzte regierende Staufer in Neapel enthauptet worden, das Heilige Römische Reich (Deutscher Nation) war Geschichte, der französische König und der Papst rangen um die Vorherrschaft, in Rom selbst die großen in alle möglichen und unmöglichen Fraktionen zerstrittenen Familien. 1294 war der völlige Außenseiter Pietro del Murrone nach 27-monatiger (!) Sedisvakanz und nicht enden wollenden Streitigkeiten der Teilnehmer des Konklave als Cölestin V. und mutige Notlösung auf den Stuhl Petri erhoben worden. Mit ihm scheiterte der letzte Versuch des Mittelalters, sich einen heilig mäßig lebenden Papst zu erlauben. Nach fünf Monaten sah der “Engelspapst“, der unter kräftigem Einfluß Karls II. von Anjou und damit der französischen Krone stand, seine Unzulänglichkeit ein und dankte „freiwillig“ ab. Ignazio Silone hat das in seinem „L’avventura d’un povero christiano“ verewigt.

Ihm folgte nicht zufällig Bonifaz VIII. aus dem Geschlecht der Caetani, der seinen Vorgänger bis zu dessen Lebensende sicherheitshalber unter Verschluss hielt. Bonifaz VIII. war eine der gewalttätigsten Figuren auf dem päpstlichen Stuhl, was etwas heissen will, und er hatte einen gleichwertigen Gegenspieler: Philipp den Schönen von Frankreich. Die beiden kommunizierten mit heiteren Briefchen wie: „Philipp an Bonifaz keinen Gruß. Deine Dummheit möge wissen, dass wir niemandem in weltlichen Dingen unterstehen.“

Das einem Papst, der gerade mit enormem Erfolg das erste Jubeljahr der Geschichte ausgerufen hatte (an den Karol Woytila 2000 sicher oft gedacht hat), und der die unglaublichste aller päpstlichen Bullen erließ, Unam Sanctam, wonach die geistliche und die weltliche Macht dem Papst unterstünde, und nach der es außerhalb der einen Kirche kein Heil geben könne, ja, es heilsnotwendig sei, dem römischen Bischof untertan zu sein (woran die Herren Eder und Krenn sicher oft denken). Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis 1854 war irgendwie noch besser, aber ein Dogma ist keine Bulle.

Bonifaz exkommunizierte Philipp, legte sich mit der in Rom immer schon mächtigen Familie der Colonna an und musste erleben, was vor ihm so noch keinem Papst widerfahren war: dass der Kanzler Philipps, Guillaume de Nogaret, gemeinsam mit Sciarra Colonna ihn in seiner Burg zu Anagni gefangen nahm, wobei der Colonna Bonifaz eine Ohrfeige angedeihen ließ, die die Welt des Mittelelters erschütterte, Bonifaz aber noch mehr. Wenn auch von seinen Anhängern nach wenigen Tagen befreit, erholte sich der Papst von seinem Alptraum nicht mehr und starb wenige Wochen später.

Ihm folgte das päpstliche Exil seiner Nachfolger in Avignon, damit die Herrschaft der französischen Krone über das Papsttum, später das Schisma und damit der Untergang einer Welt. Letztlich hatte der Nationalismus die Oberhand behalten, womit wir noch genug zu tun haben, und der eigentliche Traum des Mittelalters war dahin, oder das Träumen.
Philipp der Schöne von Frankreich errang auch einen Sonderplatz in den Geschichtsbüchern, weil er den Templerorden auflöste, die Templer verfolgte und in Massen foltern und hinrichten ließ und sich so der ungeheuren Schätze des Ordens bemächtigte. Weil er auch mit der Währung seiner Zeit herumspielte, wurde er von Bonifaz nicht ganz zu Unrecht als Falschmünzer beschimpft, die europäischen Finanzkrisen seiner Zeit hat er mitverursacht.
Mit seiner Abneigung gegenüber dem Papst stand er jedoch nicht allein: im XIX. Gesang des Inferno verewigt Dante den damals noch lebenden Papst und reserviert ihm einen Platz im Feuer. Dantes Hoffnungen gingen bald danach (1313) mit dem katastrophalen Ausgang des für lange Zeit letzten Eingreifens eines deutschen Kaisers auf italienischem Boden, Heinrichs VII., in den Orkus der Historie.

Für Dante, der Giotto gekannt hat und den Giotto ersichtlich gut kannte, waren diese Ereignisse der Zusammenbruch eines Weltbildes, nicht mehr und nicht weniger. In seiner Commedia, die erst später den Beinamen „die Göttliche“ erhielt, überliefert er das Denken, Hoffen und Leiden des mittelalterlichen Menschen, und hinterlässt eines der größten und erschütterndsten Werke der Weltliteratur, ja der Kunst überhaupt. Von allen heute kaum noch gelesenen Büchern ist dieses gemessen an seinem inneren Wert das kaumst gelesene.

Dante war auch die Familie Scrovegni bekannt, zählt er doch in seinem siebzehnten Gesang der Hölle, geführt von Vergil, Reghinaldo degli Scrovegni als Wucherer auf, als „Paduaner unter Florentinern“, während sein Zeitgenosse Giotto als Florentiner unter Paduanern für dessen Sohn Enrico die Familienkapelle ausführte. Giotto allerdings hatte für Bonifaz gearbeitet, während Dante ihm sein verhasstes Exil verdankte. Und Giotto werkte für die Scrovegni: er war Künstler, Dante Politiker. Hier ist anzumerken, dass allerdings auch Giotto zuerst der Frömmigkeit diente: Enrico Scrovegni erbaute die Kapelle in der ehemaligen römischen Arena neben dem heute verschwundenen Scrovegni-Palast als eine Art von Sühneleistung für den obszönen Reichtum seiner Familie. O verwendeten die Wucherer der Gegenwart ihre Mittel ähnlich segensreich!

Dass aber Giotto die Wunden seiner Zeit ebenso durchlitt wie Dante, zeigt sich in seinem Werk: gerade in seinen Versuchen, das Himmlische als solches festzuhalten wird die Sehnsucht des Menschen des frühen vierzehnten Jahrhunderts nach einer besseren Welt sichtbar. In seinem Jüngsten Gericht in der Arenakapelle, das in seiner Intensität erst von Signorelli in Orvieto und Michelangelo in der Sixtina wieder erreicht wird, wird das Flehen um eine Ordnung sichtbar, die sich gerade damals auflöste. Dieser sichtbar gemachte dies irae ist fürwahr ein Tag des Zorns, aber eben auch eine Verheißung. Ihn vor Augen verließen die Gläubigen den Ort des Gebets. Der einschiffige Raum ist im Gesamten ausgemalt, an den beiden Längsseiten finden sich die die Handlung tragenden Fresken.

Die beiden Zyklen von Padua, das Marienleben und das Leben Jesu, haben Generationen von Analytikern inspiriert. Die ersten Grisaille-Malereien der Kunstgeschichte, Allegorien der menschlichen Tugenden und Laster in annäherndem Schwarz-Weiß, fallen in der Farbenfülle kaum auf. Gerühmt wurden und werden Giottos lyrische Ausdrucksform, seine atmosphärische Dichte, seine verhaltene Leidenschaft, die Einbeziehung der Natur und des Lichts (während das Byzantinische noch bei Cimabue bestimmend war), vor allem aber sein Humanismus.
Die Gesichter vieler Nonnen ähneln einander, wirken auch realiter wie flache schielende Flundern, und ihnen ähneln so gut wie alle Gesichter vieler Geringerer aus Giottos Epoche. Seine Gesichter durchbrechen immer wieder eine Grenze. In seiner perspektivischen Darstellung gelingt ihm oft Großes, dann wiederum scheitert er an einer Verkürzung. Man merkt das ungeheure Ringen um den Fluchtpunkt, das vergebliche Tasten nach gültiger Geometrie, die heute jeder Pflastermaler mühelos hinkriegt. In manchen seiner Gesichter kommt jedoch zum Ausdruck, dass Trauer, Freude, Glaube, Hoffnung und Liebe nie anders ausgesehen haben als heute, immer schon ausgesehen haben wie vor siebenhundert Jahren. Das Böse in seiner Zeit war das gleiche wie das der unseren, aber das Gute ist dasselbe, es ist noch da. Das ist der Unterschied. Dass er uns diese seine Brüderlichkeit aus den Tiefen seiner Zeit bewahren und mitgeben konnte, über Jahrhunderte und alles andere hinweg, macht den Humanismus aus, der Giotto über Kriterien der Kunstgeschichte erhöht. Die Würde des Menschen ist ewig.

Man sollte Giotto nur sehen wie Juliette Binoche die Kreuzlegende des Piero della Francesca im „Englischen Patienten“ oder den Rembrandt in den „Liebenden vom Pont Neuf“ – schwebend oder halb blind, sich seiner Unmöglichkeit bewusst, den einen, richtigen Blickwinkel zu finden. Man sollte ihn in großen Abständen sehen, um sein eigenes Wachsen ermessen zu können, man sollte seine Eindrücke speichern können, wie man ihn gesehen hat, als man zu jung war, als man zu beschäftigt war, als man zu alt geworden war. Zu leicht für Kinder, zu schwer für Erwachsene, das Mozart-Wort trifft hier ganz zu.
In einem der grenzgenialen Calvin & Hobbes-Comic-Strips überzeugt der Vater seinen sechsjährigen Sohn davon, dass die Schwarz-Weiß-Fotos im Familienalbum farbig sind. Nur die Welt sei damals noch schwarz-weiß gewesen.

Wir sehen in Padua Giottos Welt. Nicht die, von der wir glauben, dass er gesehen hat, was er glaubte.

Wer heute die Arenakapelle besucht, muss sich anmelden: es werden nur Gruppen von bis zu 25 Personen für jeweils etwa zwanzig Minuten eingelassen. Davor passiert man eine Luftschleuse, Schiffsschotten ähnlich, um die Raumtemperatur zu gewährleisten. Dass im Inneren der Kapelle, die auch in ihrer Architektur ziemlich sicher auf Giotto zurückgeht, das rundum führende Holzgestühl zur derzeitigen Großausstellung „Giotto und seine Zeit“ nicht fertiggeworden ist, nach fünfzig Jahren ständiger Restaurierungsarbeiten an den Fresken, ist unerklärlich. Man steht in einer Baustelle. Noch schwerer nachvollziehbar ist die Tatsache, dass die eigentliche Pforte der Kapelle keineswegs luftdicht schließt und die Luft sichtbar frei mit der Außenluft zirkulieren kann: wozu dann die Besucherregulierung, sosehr eine solche an sich zu begrüßen ist?

Das angeschlossene – exzellente – Museo Civico befindet sich in den Konventsräumen des Eremiten-Klosters. Ein 1985 fertiggestellter Neubau wurde 1995 abgerissen, weil die Paduaner eine Beeinträchtigung des Baukörpers der Eremitanikirche fürchteten. In Italien finden solche Debatten statt.

Padua ist ein bisschen widersprüchlich. Die Stadt des Heiligen Antonius wird zeitweise von Pilger- und Touristengruppen überschwemmt, die dessen gewaltige aber auch gewaltig misslungene Grabeskirche im Süden der Stadt aufsuchen, um Eheglück, Kinder und Verlorenes beten, vielleicht noch einen Blick für Donatellos Reiterstandbild des Gattamelata erübrigen, und Padua selbst gar nicht zu Gesicht bekommen. Lachhafterweise wurde Padua erst kürzlich in das UNESCO-Welterbe der Menschheit aufgenommen – wegen des botanischen Gartens. Dabei ist die Stadt schön, mittelalterlich im gesamten piazzegesäumten Zentrum, mit Laubengängen wie in Bologna, mit der fast ebenso alten Universität von 1222, die dafür sorgt, dass fast jeder dritte Paduaner Student ist.

Padua ist auch eine reiche Stadt, die Boutiquen der Fussgängerzone wären einer Hauptstadt würdig und vereinen die großen Namen der italienischen wie der französischen Modeschöpfer. Dass in den Bars der Innenstadt weitverbreitet das Rauchverbot eingehalten wird, beweist, dass die Italianità weniger wird, wo Europa sich stärker auswirkt. Venedig ist nah’, was dazu beiträgt, Padua nicht den Zustrom an Kunstsinnigen zukommen zu lassen, der der Stadt zustünde. Neben der Serenissima kommt auch ein Giotto zu kurz. Dafür bleiben die Liebhaber unter sich.

Giottos Ruhm war zu Lebzeiten schon unerhört, das war an sich ein Novum. Dass es noch dauerte, bis sein Weg fortgesetzt wurde, bis die Revolution wirklich eintrat, war nicht seine Schuld, hat ihn aber in einsamerer Größe dastehen lassen: die europäischen Hungersnöte 1315-1318, die politischen Wirren und die verheerenden Pestseuchen um die Mitte des 14. Jahrhunderts haben dafür gesorgt, dass erst fast hundert Jahre nach ihm Masaccio dorthin gelangen konnte, wo ein Jahrtausend davor aufgehört worden war: hätten die Römer ihr Weltreich über die Völkerwanderung weiterbestehen lassen können, hätten sie den Barock erreicht. So waren Giotto und einige andere notwendig, um die Grundlagen zu schaffen für die Renaissance, die auf ihnen fußt, und deren Tor an ihrem Ende von Michelangelo mit einem furchtbaren Knall geschlossen wird. Dieser hat die Antike vollendet und beendet, und in seinen letzten Werken die Moderne gesehen. Und dass kein Retter mehr kommen würde.

Der letzte Kreis der Hölle - volkstümliche Musik revisited

Seit einem durchaus traumatischen Erlebnis, meinem ersten Musikantenstadl, hatte ich mir vorgenommen, das Kapitel „volkstümliche Musik" einmal zu verarbeiten. Nach einem ersten Ansatz, der sich zufällig ergeben hatte, wollte ich es gestern wissen: „Das Sommerfest der Volksmusik" stand auf dem Programm. Gewappnet mit guten Vorsätzen, stimulierenden Essenzen, Diktiergerät, Block und Stift, Popcorn und Pulsmesser ließ ich mich auf das Abenteuer ein.

Die Moderatorin heißt angeblich wirklich Carmen Nebel, tritt als grellgrüne Hüpfburg auf, deren Farbe sich mit allen im Studio reichlich arrangierten Pflanzen schlägt und wird ob ihres Darstellungsvermögens während der gesamten Sendung von einem relativ kleinen Philodendron links hinten an die Wand gespielt.

Die Kulissen gewähren diesmal einen tiefen Einblick in südliche Gefilde und die dunkle Seele des Ausstatters. Ein mutiger Sonnenuntergang vor der Silhouette des Vesuvs in Technicolor im Hintergrund, davor eine Pizzeria namens Don Vaffanculo oder so ähnlich, ein Ristorante Wurstelconkrauti und die unvermeidbare Vespa lassen Urlaubsgefühle von Ruhrpottbewohnern der Fünfzigerjahre wach werden. Dieses Italien gibt es nicht mehr und hat es nie gegeben, aber den Ruhrpott gibt es auch nicht mehr, und den hat es gegeben. Sein ist die Rache.
Das Publikum ist enthusiasmiert. In Magdeburg und Umgebung hatten alle Friseure Hochbetrieb, und die guten Sachen wurden aus dem Schrank geholt. Schutzbedürftige Minderjährige sind in großer Zahl und in ihren Konfirmandenkleidern mitgebracht worden, glotzen verzweifelt in die Kameras und bekommen einen Vorgeschmack darauf, was ihre Eltern meinen, wenn sie „wenn Du `mal groß bist" sagen. Es wird fast ununterbrochen gepascht, wobei selbiges nicht zu den Stärken aller Anwesenden gehört und einen leicht spastischen Eindruck macht. Ich weiß, auf diese Menschen soll man nicht hinhauen, das haben andere schon getan. Hier sitzen Verlierer, die das auch herzeigen müssen, Übergebliebene der Globalisierung der Gefühle und der enttäuschten Erwartungen an ein Leben, das nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte mit den Träumen, denen sie hier lauschen. Aber ich bin es nicht, der sie verarscht.

Auftritt Andy Borg. Wenn ein Kinderstar älter wird, nicht bei Heroin landet und den Rachen nicht voll kriegt, wird aus ihm so einer. Ausg’fressen, Glitzeranzug, den Charme eines Croupiers in Oberwart ausstrahlend, dessen Jagdstrecke an für alles zu jungen Friseusen beachtlich sein muss. Der Dialog zwischen Frau Nebel und Herrn Borg ist von einem durchgeknallten Gagschreiber, der von Didi Hallervorden wegen Niveaulosigkeit an die Luft gesetzt wurde. Die Gags sind nicht wiedergebbar, werden so authentisch improvisiert gebracht wie Kommentare des XXIII. Parteitags der KPdSU und unterbieten auch deutsche Entgleisungen in puncto Humor um Längen. Das Publikum tobt.

Die Sangesdarbietung von Andy Borg lässt mich zum ersten Mal daran zweifeln, ob ich das durchstehe, aber zum Glück kommt nun Stefanie Hertel. Auch die war einmal ein Kinderstar, und nun ist sie im elften Monat schwanger und tritt „zum letzten Mal vor dem freudigen Ereignis" im Fernsehen auf. Sie sieht vor allem nasenmäßig aus wie Stefanie Graf, allerdings heißt ihr André Agassi Stefan Mross, was nur gerecht ist. Frau Hertel ist Gewinnerin der Goldenen Stimmgabel und erschüttert das Publikum mit Folgendem:

Ich hab’ ein Handy in meinem Herzen, das klingelt mitten in der Nacht.
Ich weiß genau, das kannst nur Du sein, Du hast ganz lieb an mich gedacht.
Ich hab’ ein Handy in meinem Herzen, da bist Du immer nah’ bei mir.
Das kleine Handy in meinem Herzen, das ist mein heißer Draht zu Dir.

Es wurde schon in einem originellen TV-Spot auf die zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten des Vibrations-Läutens von Mobiltelefonen eingegangen, aber hier findet eine den Mut und die Sprache, das vor einem Millionenpublikum hinauszuposaunen. Ob die Errungenschaften von Breitbandübertragungen auch für ihren Zustand verantwortlich sind, was Herrn Mross in Abwesenheit etwas cooler dastehen ließe, fragt Frau Nebel nicht. Dafür schwadroniert man darüber, wie man schon vor zehn Jahren beisammen saß und dass man in zehn Jahren wohl wieder, etc., was Carmen Nebel zu der von hölderlinscher Dramatik durchdrungenen und in ihrer Schickssalsschwere völlig berechtigten, allerdings an diesem Abend nicht von allen Zusehern geteilten Aussage „Hoffentlich bin ich dann auch noch da" bringt. Carmen Nebel ist ein schönes Beispiel dafür, dass Moderatoren exakt auf dem intellektuellen Level des Publikums sein müssen, um erfolgreich zu sein. Man nimmt ihr ab, dass sie über ihre Fans nicht hinterrücks lästert und ohne Drogen auftritt. Ihre Begeisterung ist so echt wie die Betroffenheit einer Russwurm oder die Niedertracht eines Moik.

Dem folgen die „Sänger und Tänzer der ersten Volksmusikboygroup, die Alpin AG", also eine Art New Kids under the Mähdrescher, was aber auch ein frommer Wunsch bleibt. Festzuhalten ist, dass Frau Nebel in einem ihrer tieferen Momente des Abends das Publikum darauf aufmerksam macht, dass die Beatles auch singen und musizieren konnten, dabei aber nicht getanzt haben. Die hier konnten das. Der Schuss im Himmel, mit dem John Lennon sich noch einmal der Unmöglichkeit einer Rückkehr versicherte, war nur für wenige zu hören.
Alpin AG bringen eine deutsche Cover-Version eines Titels, den schon die Kastelruther Spatzen gefladert haben, was lobend erwähnt wird, und dann stehen die Bestohlenen auf der Bühne: Smokie. Ich erinnere mich, dass in meiner Schule ein Bekenntnis zu Smokie mit lebenslanger Ächtung gleichzusetzen war, und jetzt stehen die hier, kurz vorm Rollstuhl, machen gute Mine zum bösen Spiel, und singen als Ausgleich auch eine Raubkopie, nämlich „It Never Rains in Southern California". Meine stimulierenden Ingredienzen werden weniger.

Österreich hat Deutschland und der Welt schon viel angetan. Warum das auch auf dem Gebiet der Perversion von Unterhaltung so sein muss? Brunner & Brunner, die nächsten Gäste, geben nicht bei ihrem Auftritt, aber in ihrer Homepage eine Antwort:

"Der "stairway to heaven" führt über die Holzstrasse oder die tiefere Schönheit des Unwortes "Schlager"
Karrieren fliegen im Normalfall nicht wie Sektkorken an die Decke. Karrieren unterliegen einer Entwicklung und die begleitenden Parameter heißen Talent, Durchhaltevermögen, Partnerschaften und Glück. Speziell künstlerische Entwicklungen wurzeln in den meisten Fällen in dem Biotop, aus dem der Künstler stammt. In diesem Fall heißt das Biotop Steiermark. Der Teil Steiermark, aus dem die Brüder Brunner stammen, ist der westlichste der Mark. Hart an der Grenze zum Land Salzburg. Die Berge die den Heimatort Murau umgeben sind die Niederen Tauern. Nieder ist nicht wirklich nieder. Im Gegenteil, sie sind eigentlich ziemlich hoch, die Niederen Tauern, aber es gibt da eben noch höhere Berge. Berge, dörfliche Enge, eingefahrene gesellschaftliche Strukturen und eine Entertainmentspielwiese, auf der sich die Spielregeln seit Ewigkeiten nicht verändert haben. Das sind nicht wirklich die optimalen Bedingungen für satten rock´n´roll. Aber, wäre da nicht die oft bestätigte Theorie, das rock´n´roll eher im Herz stattfindet und erst möglicherweise später auf Gitarrensaiten springt."

Hart an der Grenze zum Wahnsinn, der erst später möglicherweise auf Gitarrensaiten springt, die leider nicht wie Sektkorken an die Decke knallen, sondern über den Holzweg nicht optimaler gesellschaftlicher Strukturen satten Rock ´n´ Roll im Herzen stattfinden lassen, wo Stefanie Hertels Handy unablässig klingelt, weil George Harrison aus Poona anruft und Satisfaction schreit. Brunner & Brunner sind hart, Gebrauchtwagenverkäufer auf Abwegen, Siegfried & Roy aus Murau, und statt den schwulen weißen Tigern wird ein junger Bernhardiner auf die Bühne gezerrt, der sich umgehend daran macht, Carmen Nebel südlich des Nabels niederzuschnüffeln, die offenbar für die letzte Pipi-Pause zu wenig Zeit gefunden hatte. Nieder ist wirklich nieder.
Ich habe Rudi Schurike nicht wirklich gemocht. Sein „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt" hat zu solchen Kulissen geführt, und dazu, dass ich heute wie einst Tiberius auf meiner Lieblingsinsel nur nachts unterwegs bin, weil ich die Tagestouristen nicht aushalte. Aber was ihm nun geschieht, hat er nicht verdient: sein Enkel tritt auf, jung, sportlich und fesch, und singt Schurikes „Glaube mir!" in einer Rap-Version, und dann wird eine uralt-Aufnahme des Haderns von Schurike dazwischengeblendet, das Gesicht des Opas in Schwarzweiß, und die beiden singen im Duett.
„Was die Technik alles möglich macht..." sagt Frau Nebel, und das haben sie in Hiroshima damals wohl auch gedacht.

Interessanter Weise sprechen die kurzen Schwenks an den Reihen des aufgefädelten Publikums entlang eine eigene Sprache: die meisten blicken mürrisch, offenbar unwirsch, dass da Kameras die Idylle stören, man wäre lieber unter sich.

Wiedermal den Tag versaut
Und Dir geht’s auch noch gut
Wieder richtig draufgezahlt
Mir reicht’s, ich hab’ genug.

gibt dann Wolfgang Petry zum Schlechtesten. Ich bin nun in einer Stunde um ein paar Jahre älter geworden. Warum tue ich mir das an? Journalistische Sorgfaltspflicht? Ich schreibe Reden für Politiker und langweilige Artikel zu Budgetfragen. Das tut auch weh, aber es hat nichts mit diesem Irrsinn zu tun.

Bei mir ist jetzt der Teufel los
Mein Leben schreit nach Dir
Auf einmal geht die Türe auf
Und Du stehst hier vor mir.

Vor mir steht ein Elvis-Imitator. Er bringt einen Elvis-Medley, aber dann zeigt er, dass er mehr d’raufhat. Elvis singt „Anton aus Tirol", frenetischer Applaus, standing ovations, die ersten Ohnmachtsanfälle im Publikum und in meinem Wohnzimmer.

Mal wieder voll daneben
Und Du gibst mir den Rest
Mal wieder voll daneben
Ich beiss mich an Dir fest
Wir ha’m schon tausendmal
An Schluss gedacht
Doch einmal ist noch drin
Mal wieder voll daneben
Wir kriegen das schon hin.

Wolfgang Petry wirkt noch tröstend nach, aber es naht die Stunde ohne Trost. Ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Meine Notizen aus jener Nacht beginnen schwer leserlich zu werden. Das Diktaphon war noch bei Bewusstsein: ihm entnehme ich, dass in jenem Sommerfest der Volksmusik und in Frau Nebel noch eine ganze Kettenreaktion an Höhepunkten stattgefunden hat. Es gab einen gnädigen Tonausfall während einer Nummer von Truck Stop, der kein Filmriss von mir war, weil die Jungs erstaunt unterbrachen und noch viel erstaunter und leicht verspätet weiter sangen, als das Band sich wieder gefangen hatte, es gab einen weiteren Abschied von zwei Sängerinnen, die die Bühne verließen, weil sie als Teilzeitprostituierte in Estland etwas Besseres gefunden hatten oder so, von Tränen und Bocelli (vom Band) begleitet, und bei „Time to Say Goodbye" war ich in etwa in der Verfassung von Mike Tysons letztem Vergewaltigungsopfer nach der zwölften Runde, nur ohne das Handtuch werfen zu können. Monika Martin, eine weitere Verhöhnung Österreichs als Musikland, gab noch ihren Senf akustisch dazu, dann traten Judith & Mel an, um mir den finalen Fangschuss zu gewähren.
Von Judith und Mel hatte ich noch nie gehört, und wenn dieses mein Leben mir noch ein klein wenig Gerechtigkeit angedeihen lassen will, für alles was ich nicht getan habe und alles was mir widerfuhr, dann werde ich auch nicht mehr von ihnen hören. Er im hellblauen Rüschenanzug, sie folgerichtig in Pink, ein Paar wie aus diesen billigen Softpornos der Siebziger, die man so gerne vergessen möchte. Sie hielt das Mikrophon so, wie man als sehr junger Junge hofft und später fürchtet, dass sie etwas halten würde. Ihre Nummer war auch so. Als ich begann, mein Leben wie einen Film ablaufen zu sehen, hatte ich genug. Gnädig umfingen mich Morpheus’ Arme.
Man muss sich im Leben vielem stellen. Ich habe gelernt, dass das meiste verarbeitet werden kann, dass manches durchaus auch verdrängt werden soll. Es gibt jedoch auch Bereiche, die einfach so im Raum stehen bleiben müssen. Nicht für alles sind wir groß genug. Manchmal zerbrechen wir an solchen Hindernissen, manchmal umschiffen wir sie. Warum alle so unglücklich sind, während es uns allen so gut geht, werde ich nicht mehr beantworten können, Fermats letzten Satz werde ich nie verstehen, warum Frauen sind wie sie sind auch nicht. Ich werde jedoch weiter nach Antworten suchen.

Die Volksmusik aber überlasse ich Größeren. Man muss auch in Würde scheitern können.